Lisbon revisited

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Auf dem Rossío in Lissabon

„Baixa“, „Bairro Alto“, „Chiado“, „Rossío“, „Terçeiro do Paço“, “Alfama”, “Praça dos Restauradores” – jeder Tourist kennt mittlerweile die Namen der Plätze und Quartiere Lissabons. Für mich haben sie immer noch den magischen Klang, dem ich vor vielen Jahren verfallen bin, ja, in ihrem Klang versteckt sich die Essenz Lissabons. Ich spreche sie leise vor mich hin und imitiere dabei den weichen, nasalen Tonfall der Portugiesen. Seltsamerweise ist es der Klang der Sprache, der mir die Wirklichkeit der Stadt näher bringt und mich an jenes Lissabon erinnert, das ich im Herbst 1978 zum ersten Mal besucht habe.
Im Museum der modernen Poesie, eines der ersten Bücher, das ich in meiner Buchhändlerlehre kaufte, stieß ich auf das Gedicht Lisbon Revisited von Fernando Pessoa. Es brachte mir die Stadt am Atlantik in die Schweizer Berge. Ich spürte den Wind, der vom Meer herkam.
Kaum hatte ich die Buchhändlerlehre beendet, bin ich nach Portugal gereist. Mit der Bahn. Die Fahrt dauerte zwei Tage. Ich hatte das Gefühl, in ein fernes Land zu gehen. Als ich im Bus vom Bahnhof Santa Appalonia ins Zentrum fuhr – Fabrik- und Lagerallen auf der Linken, zwischen denen der Tejo in der hellen Morgensonne aufblitzte und alte weisse Häuser auf der Rechten – kam mir alles sonderbar bekannt vor, ohne zu wissen warum, denn ich war zuvor noch nie hier gewesen.
Portugal war ein eigenartiges Land, damals. Es lebte mit dem Rücken zu Europa, den Blick aufs Meer gerichtet. Brasilien und die afrikanischen Kolonien waren ihm näher als der Kontinent zu dem es gehört. Auch heute – viele Jahre später – habe ich immer noch das Gefühl, das Land gehöre nicht ganz zu Europa. Es lebt in seiner eigenen Welt, mit seinen eigenen Problemen. Viele Portugiesen sind sogar überzeugt, dass mit der europäischen Integration die Probleme erst angefangen haben.

Jetzt bin ich wieder in Lissabon. Sonnige, helle Apriltage. Gleich nach meiner Ankunft besteige ich die Fähre nach Barreiro, das auf der anderen Seite des Tejos liegt, und fahre sofort wieder zurück. Ich will zwei Mal ankommen in der Stadt des Windes und des Lichtes. Einmal durch die Luft und einmal über das Meer. Das scheint mir eine würdige Annäherung an ein Land zu sein, das immer noch von seiner großen Vergangenheit als Seefahrernation träumt. In den neuen Fähren sitzt man in langen Reihen, hinter dickem Glas. Das Gefühl des Ankommens ist weg. Früher hatten die Fähren ein offenes Deck. Man konnte sich über die Reling beugen, den kühlen Wind im Gesicht und zusehen wie Lissabon auf seinen Hügeln zu einer weißen Masse zusammenschmolz. Auf dem Rückweg nahm diese Masse wieder Form an. Die Einzelheiten schienen sich aus sich selber heraus zu erschaffen. Man hat wirklich das aufregende Gefühl des Ankommens verspürt, aber heutzutage mit den öden, funktionalen Schiffen, bei denen es nur noch um einen optimierten Transport geht, ist alle Aufregung weg. Damals konnte man beobachten, wie die runde weiße Kuppel der Kirche Santa Clara Gestalt annahm, dahinter formte sich der längliche Barockbau des Klosters Paróquia de Saõ Vicente de Fora, und westlich davon wuchs das üppige Grün aus den Mauern des Kastells Saõ Jorge, darunter erstreckte sich das Alfama mit seinen verschachtelten Häusern zum Tejo hinab. Dann die grüne Schneise der Avenida da Liberdade und weiter oben das grüne Rechteck des Parks Eduardo VII. Weiter westlich das Bairro Alto, die Kirche Santa Catarina, die Viertel Madragoda und Lapa und wenn man den Kopf ganz nach Westen drehte, sah man die Hängebrücke 25. Avril, die als Erinnerung an die Nelkenrevolution von 1974 erbaut worden war, jenes Ereignis, das Portugal ins Bewusstsein des übrigen Europas gebracht hatte. Mitten auf dem Tejo gibt es einen kurzen Augenblick, bei dem man das Gefühl hat, die Praça do Commerçio sei ein riesiges Wasserbecken zwischen den monumentalen Gebäuden mit ihren strengen geometrischen Arkadenbögen. Pessoa bezeichnete den Platz als die Eingangshalle zur Stadt.

Ich überquere den Platz und werfe einen flüchtigen Blick ins Restaurant Martinho da Arcada an der Ecke zur Rua da Prata, auch das gehört zu meinem Begrüssungsritual. Das Restaurant besteht aus mehreren kleinen Sälen, die durch Bögen miteinander verbunden sind. Im hintersten Saal hängen Fotos von Fernando Pessoa an den Wänden. Hier im Arcada hat er viele Nachmittage verbracht, im Gespräch mit seinen Freunden João Gaspar Simões und Almada Negreiros oder mit den Dichtergestalten, die er erfunden hat. Ich gehe die Rua dos Douradores (die Straße der Vergolder) hinauf. Sie ist die hinterste Straße in der schachbrettartig angelegten Baixa, der Unterstadt. Im Vergleich zur schicken Rua Augusta wirkt sie mit ihren düsteren und unansehnlichen Hausfassaden wie ein Schmuddelkind.
Fernando Pessoa hatte hier als Korrespondent einer Handelsfirma gearbeitet. In dieser Straße war auch Bernardo Soares, Autor des Buches der Unruhe, als Hilfsbuchhalter in einer kleinen Textilfirma tätig. An seinem Stehpult schrieb er Zahlenkolonnen und verzeichnete die Bilanz seiner Seele. „Wir alle, die wir träumen und denken, sind Hilfsbuchhalter in einem Stoffgeschäft oder in irgendeinem anderen Geschäft in irgendeiner Unterstadt. Wir führen Buch und erleiden Verluste; wir ziehen die Summe und gehen vorüber, wir schließen die Bilanz, und der unsichtbare Saldo spricht immer gegen uns.“
Bernardo Soares ist eine der Dichtergestalten, die Fernando Pessoa erfunden hat. Pessoa war ein richtiges Schreibunternehmen mit mehreren fiktiven Angestellten, die für ihn vollkommen real waren. Sie hießen Ricardo Reis, Alberto Caiero, Alvaro Campos, Bernardo Soares, António Mora. Jeder Angestellte hatte seine eigene Stimme, seinen eigenen Stil, sein eigenes Leben. Für jeden fertigte Pessoa das Horoskop an. Alberto Caeiro, Ricardo Reis und Alvaro Campos schrieben Gedichte, António Mora ist der Autor einer umfassenden philosophisch-pantheistischen Studie. „Sei vielgestaltig wie das Weltall”, war Pessoas Devise, „ein Dichter muss mehr als einer sein, um einer sein zu können.“

Ich sitze am Largo do Carmo im Schatten einer Platane. Nach der hektischen Baixa und dem lärmigen Chiado ein Platz der Entspannung. In einem der Häuser hatte Pessoa für eine gewisse Zeit gewohnt. An einem Tischchen spielen vier alte Männer Karten. Sie tragen karierte Schirmmützen. In ganz Portugal tragen alte Männer karierte Schirmmützen. Das war vor dreißig Jahren schon so. Ich habe ein paar Seiten aus dem Buch der Unruhe gelesen, dann musste ich das Buch schließen. Nirgendwo ist Lissabon für mich so gegenwärtig wie im Buch der Unruhe, dieser Sammlung aus Notierungen, Tagebucheinträgen, Betrachtungen und Reflexionen. Fernando Pessoa alias Bernardo Soares vermittelt ein wunderbares Gefühl von dieser Stadt. Er war ein Spaziergänger, ein Besessener des Schauens, den die Wirklichkeit manchmal mit einer halluzinierenden Wucht überwältigte. Die greifbare Gegenwärtigkeit Lissabons, die ich bei der Lektüre empfinde, gewährt mir die Stadt auf meinen Wanderungen nur in ganz flüchtigen Augenblicken. Ich betrachte das Blau des Himmels, das in den Bögen der Ruine der Igreja do Carmo leuchtet.
Lissabon ist Pessoas Stadt. Hier wurde er geboren. Hier ist er gestorben. Hier hat er die meiste Zeit seines Lebens verbracht. Er war ein großer Reisender, dessen Kontinent Lissabon hieß, ein Stadtnomade, der zwischen den Handelshäusern, den Tabakläden und den Bars der Baixa, dem Cais do Sodré und dem Chiado hin und her wanderte. Ein hellsichtiger Traumwandler, der auf seinen Rundgängen Gassen, Straßen, Geschäfte, Cafés, Menschen in sich aufsog. Er kannte die Kühle eines Herbstmorgens, die sonnendurchfluteten Sommertage, den feuchten Westwind des Winters. Vertraut mit der Geschichte der Stadt, mit seinen Gebäuden, Monumenten und Statuen wusste er, welcher Künstler welches Denkmal erschaffen hatte; man kann es nachlesen in Mein Lissabon – Was der Reisende sehen sollte, ein Reiseführer, den Pessoa 1926 auf Englisch geschrieben hatte.
Mittlerweile hat Pessoa eine allgegenwärtige Präsenz in dieser Stadt, die ganz und gar nicht zu diesem scheuen Einzelgänger passt. Was Goethe für Weimar ist Pessoa für Lissabon. Kultfigur und Souvenir. Der unwirklichste unter den portugiesischen Dichtern wurde in die platte Wirklichkeit des Marketings gezerrt. Man findet sein Abbild auf den Tagespässen des öffentlichen Verkehrs, auf Postkarten, Posters, Einkaufstüten, Schlüsselanhängern und Briefmarken, er sitzt als Bronzestatue vor dem Café Brasileira, oben am Chiado, ein beliebtes Fotosujet für Touristen. Jeder glaubt, sich mit Pessoa schmücken zu müssen. Im Alfama hat jemand ein lebensgrosses Porträt von ihm auf eine Fassade gesprayt; es sieht so aus, als ob er schwebend aus der Wand heraus treten würde.
Danach gehe ich mit A. in eine Kleiderboutique an der Rua Don Pedro V. “Padaria” (Bäckerei) steht vor dem Eingang auf den Keramikkacheln. Ein heller, von Licht durchfluteter Raum, Ebenso hell ist die Stimme von A., ihr Lachen, ihre Direktheit, die nie unverschämt oder plump ist, sondern von einer natürlichen, spontanen Art, mit der sie sofort das Vertrauen der Verkäuferinnen gewinnt, es ist etwas Fröhliches darin, das dem Tag eine besondere Note gibt.

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Fernando Pessoa vor dem Café Brasileira

Ich wandere die Rua do Carmo dann die Rua Garett hinauf. Da gibt es den Handschuhladen Ulisses und die Buchhandlung Bertrand, an die ich mich noch gut erinnern kann. Ich will zum Largo de São Carlos. Im Haus, das gegenüber dem Theater steht, wurde Fernando Pessoa am 8. Juni 1888 im vierten Stock geboren. Es ist einer der stillen Plätze Lissabons, Pessoa bezeichnet ihn als “das Dorf, in dem ich auf die Welt kam”. Ich komme an alten Bäckereien vorbei, die voll warmer Düfte sind, an kleinen Spezereiläden, in denen geräucherte Schinken und gepökelter Kabeljau von der Decke hängen. Die Kabeljaus sehen wie harte Salzbretter aus und verströmen einen durchdringenden Geruch. Ich gehe weiter zum Miradouro Santa Catarina. Der Tejo glitzert im Morgenlicht. Am anderen Ufer sehe ich die riesige Jesusstatue, im Westen das Stahlgerippe der Ponte 25. Avril. Ich komme am São Luis Hospital vorbei und bleibe einen Augenblick stehen, schaue in den Innenhof, dann die weissen Fassaden empor. In diesem Spital ist Pessoa am 30. November 1935 an einer Leberzirrhose gestorben. Auf dem letzten Foto, das es von ihm gibt, sieht er wie ein ganz alter Mann aus, obwohl er erst siebenundvierzig Jahre alt ist. Das Leben kennt viele Häfen, aber wir wissen nicht, in welchem wir ankommen. Hätten wir nicht unsere alltäglichen Gewohnheiten, wir wüssten nicht einmal, in welchem Gewässer wir uns bewegen.
Ich verirre mich in den stillen schattigen Gassen des Bairro Alto. In diesem engen, verwinkelten Quartier mit seinen einsamen Ecken und dem alten Kopfsteinpflaster hat man den Eindruck, das Leben habe sich daraus fortgeschlichen, um anderswo ein aufregenderes zu finden. Die Gassen scheinen in einem Zustand der Erwartung erstarrt zu sein, auf Etwas, das vielleicht nie kommen wird. Man geht langsamer, achtet auf Dinge, die man gewöhnlich übersieht, eine alte Strassenlaterne, die Vase mit Stoffblumen in der Ecke eines Fensters, ein Mann, der in der Tiefe eines Ladens selbstvergessen hinter dem Bildschirm sitzt. Früher waren die Gassen voll vom Duft gegrillter Sardinen, die die Hausfrauen auf kleinen Kohleöfen vor der Haustür brieten. Jetzt gibt es das nicht mehr.

Ich wandere mit dem Buch der Unruhe durch das frühlingshafte Lissabon. Ich trage es immer mit mir herum, tagsüber, zum Abendessen und sogar nachts, wenn ich in eine Bar gehe. Das Buch ist geprägt von der Einsicht der Vergeblichkeit jeglichem Tun. Diese Einsicht ist ein sanftes Gift, eine lähmende Substanz.
An einem windigen Nachmittag sitze ich auf der Terrasse des Cafés „Suiça“ und lese, als ein alter Herr und seine Tochter sich an meinen Tisch setzen. Der Vater fragt mich, was ich da lese. Ich zeige es ihm. Er ist beeindruckt. Auf dem Gehsteig drängt sich eine dichte Menschenmenge vorbei, der Lärm des hektischen Strassenverkehrs, die Bettler und die Losverkäufer. Vater und Tochter stammen aus Braga, er ist wegen geschäftlichen Dingen in Lissabon. Die Tochter ist sehr hübsch. Nachdem wir eine Weile miteinander gesprochen haben, lädt der Vater mich zum Nachtessen ein. Es kommt so überraschend, dass ich völlig überrumpelt bin und die Einladung ausschlage. Ich bin unsicher. Das Gift  „Pessoa“! Auch die Tochter macht ihm Vorhaltungen, nicht weil sie abgeneigt ist, habe ich den Eindruck, sondern weil ihr Gewissen der Konventionen dagegen protestiert.

Mit der Trambahn Nummer 28 fahre ich zum Jardim da Estrela, dem alten Park hinter dem Regierungsgebäude. Ich will zur Casa Fernando Pessoa an der Rua Coelho da Rocha. Hier hat Pessoa die letzten fünfzehn Jahre seines Lebens gewohnt. Bis 1921 ist er viel umgezogen, er hat in zahlreichen möblierten Zimmern logiert, bis er hier draussen eine kleine Wohnung gefunden hat, wo er bis zu seinem Tod blieb.
Das Haus ist vor ein paar Jahren ausgehöhlt und umgebaut worden. Vor der Eingangstür ist Pessoas Horoskop in Keramikfliessen eingelegt. Im Haus gibt es nun eine Bibliothek, eine Galerie und ein Auditorium. In der Zwischenetage hat man Pessoas Schlafzimmer und eine Ecke seines Wohnzimmers nachgebildet. Bett, Kommode, Kleiderständer (an dem ein weisses Hemd, eine schwarze Krawatte und eine Weste hängen, darunter steht ein Paar schwarze Schuhe). Auf der Kommode liegen Schreibutensilien und ein Hut. Rechts steht ein riesiger dunkler Schrank und gegenüber ein dunkles Bücheregal (ohne Bücher). Pessoas Bibliothek hat man fortgeschafft. Die berühmte Truhe, in der er all seine Manuskripte aufbewahrt hat, steht noch da. Die Echte oder eine Nachbildung? Pessoa hat zeitlebens wenig publiziert, die meisten Bücher sind nach seinem Tod veröffentlicht worden. In der Ecke des Salons stehen zwei Stühle und ein niedriges Tischchen mit Intarsien. Auf dem Tischchen steht ein Aschenbecher mit Zigarettenstummeln darin, daneben ein Zigarettenetui, beschriebene Blätter. Auf einem zweiten Tischchen stehen eine Lampe und ein Telefon. Hinter der Salonecke gibt es eine schmale Galerie mit Schaukästen. An der Wand sind Pessoas biographische Daten zu lesen: 1893 stirbt sein Vater, Pessoa ist fünfjährig. Zwei Jahre später heiratet die Mutter João Miguel Rosa. Rosa ist Konsul in Durban, Südafrika, wo Pessoa auch zur Schule gehen wird. Aus der Ehe mit dem Konsul kommen fünf Kinder zur Welt. Ich habe immer gemeint, Pessoa sei ein Einzelkind gewesen. Mit fünfzehn Jahren gewinnt er bei der Aufnahmeprüfung an die Universität von Kapstadt den Königin-Victoria-Preis. 1905 kehrt er definitiv aus Südafrika nach Lissabon zurück. Er schreibt sich für kurze Zeit an der Universität ein, dann wird er Handels- und Auslandkorrespondent für verschiedene Import- und Exportfirmen, was ihm ein bescheidenes Auskommen garantiert.
Interessant ist der Unterschied zwischen Pessoas leiblichem Vater und dem Stiefvater. Der Vater scheint ein Feingeist gewesen zu sein, schmale Statur, zurückgekämmtes Haar, hohe Stirn, empfindsames Gesicht. Er war Ministerialbeamter, daneben schrieb er Musikkritiken. Der Stiefvater ist ein korpulenter Mann, eckiges Gesicht, niedrige Stirn, graues Haar – wahrscheinlich ein Sanguiniker und Genussmensch.
In den Schaukästen sind zwei von Pessoas Brillen zu sehen, Haarschneide-Apparate, Bürsten, Pinsel, Rasiermesser und ein paar Notizbücher. Es gibt nur wenige Fotos von ihm. Einige zeigen ihn in den Strassen der Baixa. Man hat das Gefühl, er schwebe mehr als dass er gehe. Ein Gefühl übrigens, das auch seine Bekannten hatten. Laut ihren Berichten hat Pessoa ein anspruchsloses und bescheidenes Leben geführt, das vor allem von inneren Unruhen geprägt war. Ein kleiner Angestellter mit einer grossen Vagabundenseele. Im Gegensatz zu seinem Werk, das Einsamkeit und ein Gefühl der Saudade ausdrückt, scheint Pessoa selber ein umgänglicher Mensch gewesen zu sein, ein bewundernswerter Plauderer, der bezauberte, oft zu Spässen aufgelegt war und eine besondere Anziehung auf Frauen ausübte.
In zwei dicken Katalogen ist seine Bibliothek erfasst, ca. 1200 Bücher. Sein reges Interesse an Esoterik und Okkultismus. Einmal will er Aleister Crowley zu einer Lesung nach Lissabon einladen, aber man verweigert Crowley die Einreise nach Portugal. Ausserdem gibt es Bücher zur Theologie, Philosophie, Soziologie, Naturwissenschaften (Einsteins Relativitätstheorie) und Literatur (Homer, Ovid, Shakespeare, Baudelaire, Poe). Pessoa hat eine umfassende Bildung besessen, die weit übers Literarische hinausgeht, er hat Bücher auf Portugiesisch, Französisch, Englisch und Lateinisch gelesen. Es gibt faksimilierte Seiten mit Randnotizen von ihm, sie sind immer in der Sprache des Buches abgefasst. Seine gleichmässige, gut lesbare Schrift mit den langen Unter- und Oberenden.

Eines Abends, als ich zum Nachtessen ausgehe, muss ich auf den Lift warten und schaue zum Fenster hinaus. Vom fünften Stockwerk des Hotels hat man einen wunderbaren Blick auf die Praça dos Restauradores, den Rossío, das Alfama und das Kastell Saõ Jorge. Das Abendlicht hat die weissen Häuser vergoldet, Lissabon sieht wie verändert aus, das grelle Licht des Nachmittags hat sich in eine dunkelgelbe Tönung verwandelt. In diesem sanften Abendlicht kann ich eine längst vergessene Stimmung wiedererkennen, eine warme, entspannte Atmosphäre, die die Strassen und Plätze füllt, als wären sie aus dem Alptraum eines hektischen Tages erwacht. Jetzt hat man die Musse, ziellos umherzuschlendern, nichts treibt einem mehr vorwärts, man findet mühelos den Rhythmus der eigenen Schritte. Von diesem Abendlicht war auch Bernardo Soares, der Verfasser des Buches der Unruhe, fasziniert, er war überhaupt ein Spezialist für das sich ständig verändernde Licht von Lissabon. Er stand früh auf, um zu sehen, wie das Morgenlicht aus den Gassen und Strassen der Stadt empor stieg.
Ich gehe in ein kleines Lokal unten am Cais do Sodré, weil man mir gesagt hat, es gäbe da vorzüglichen Bacalhaõ, den portugiesischen Stockfisch. Das Lokal scheint vor allem von jüngeren Leuten besucht zu werden. Am Tisch nebenan sitzt ein junger Mann mit einer Wollmütze auf. Er liest in einem Buch und nickt dabei mit dem Kopf, als würde das Gelesene einen Rhythmus in ihm erzeugen. Als das Essen kommt, legt er das Buch weg. Es sind die Gedichte von Alberto Caiero, einem von Pessoas Dichtergestalten.
–  Sie sind der erste hier in Portugal, den ich Pessoa lesen sehe, sage ich zu ihm.
–  Viele dürften es nicht sein, antwortet er.
–  Aber Pessoa ist überall, sage ich.
–  Pessoa ist eine Pest. Er hat Lissabon mit seinem nichtssagenden Angestelltengesicht verseucht. Überall Pessoa. Es ist nicht seine Schuld. Trotzdem. Alle gehen mit ihm hausieren, die Marketingfritzen und die Stadtbürokraten, alle meinen, dabei schrecklich kreativ zu sein, doch lesen tut ihn keiner, aber alle tun so, als hätten sie ihn gelesen. Pessoa hat Francesco als Stadtheiligen abgelöst. Zum Kotzen. Einfach zum Kotzen.
Der junge Mann heisst Simeaõ und er ist ein Slamer. Er ist dabei, zu prüfen, ob sich Caieros Gedichte für einen Slam-Abend eignen würden.